Das Tourette-Syndrom ist mittlerweile, besonders auch durch einige Filme in denen es als Hauptthema behandelt wurde, relativ bekannt. Wenn jemand von einem Erlebnis mit einem von Tourette betroffenem Menschen redet, erwähnt er für gewöhnlich das impulsive Rufen von Kraftausdrücken. So einfach ist es aber nicht. Es gibt viele verschiedene Formen von Tourette und nicht jeder der Betroffen ist, hat den Impuls Beleidigungen oder Obszönitäten zu verbalisieren. Bei vielen fällt diese Komponente sogar gänzlich weg und sie zeigen ein Tic-Verhalten, das eher Körperlicher Natur ist. Oft werden diese Tics von Außenstehenden nicht als Tourette eingeordnet, sondern als eine geistige Behinderung. Auch der 20 jährige Jan hat solche Erfahrungen bereits machen müssen. Um einen besseren Einblick zu gewähren, erzählt er uns welche Formen des Tourette-Syndroms es überhaupt gibt und wie genau sie sein Leben beeinflussen.
„Seit wann weißt du, dass du vom Tourette-Syndrom betroffen bist?“
„Das Tourette-Syndrom wurde 2004, als ich sechs Jahre alt war, an der Uniklinik Wiesbaden diagnostiziert. Zuvor verwechselten es die Ärzte noch mit Epilepsie. Eine so komplexe Form wie jetzt habe ich aber erst seit etwas über einem Jahr.“
„Wie unterscheidet sich die komplexe Form des Tourette-Syndroms von der, die dir als Kind diagnostiziert wurde?“
„Zu dem Zeitpunkt der ersten Diagnose hatte ich nur einfachere motorische und vokale Tics. Das heißt, ich krampfte mit meinen Armen, dem Gesicht und gab Laute sowie Geräusche von mir. Als ich so etwa acht war entwickelte ich die erste komplexere Form. Nämlich Palilalie. Dass heißt, dass ich mich selber immer wiederhole, also mir selbst nachspreche (eine der Sonderformen von Tourette).
Heute ist mein Hauptmerkmal die Koprolalie. Hierbei handelt es sich um die Form, bei der Kraftausdrücke benutzt werden. Diese Form ist beim mir sehr ausgeprägt und da die Pubertät beim mir vorbei ist, wird dies wohl auch so bleiben. Hinzu kommen bei mir noch eine Reihe sehr komplexer motorischer Tics.
„Was kann ich mir unter komplexen motorischen Tics vorstellen?“
Mit komplex meine ich z.B. Tics, die richtige Interaktionen beinhalten. Beispiel: Knöpfe drücken, Hebel betätigen – ich habe deswegen schon einen Feueralarm ausgelöst-, Blumenköpfe abreißen, Leute berühren, Löffel werfen oder anderen Leuten Befehle erteilen.
Die einfacheren motorischen Tics, die ich habe sind: Klatschen, mir vor die Brust hauen, mit dem Kopf wackeln, Gesicht verziehen oder mit den Armen krampfen.
Die komplexen verbalen Tics sind: Leute situationsabhängig beleidigen, politisch unpassende Worte und Sätze rufen, an öffentlichen Orten Sachen über Terrorismus brüllen, beim Anblick der Polizei Bullenschweine rufen oder beim Anblick Übergewichtiger Sachen über deren Gewicht laut zu verbalisieren.“
„Was denkst du, warum deine Tics im Laufe der Zeit schlimmer wurden?“
„Was genau der Auslöser war, dass die Tics schlimmer wurden weiß ich nicht genau. Ich schätze aber es kommt daher, dass ich so viele Jahre versucht habe es zu unterdrücken. Dadurch staut es sich an und nun kann ich es sehr viel schlechter unterdrücken. So geht es anderen auch. Ich war in Siegen im Tourette-Camp und dort haben mir viele von sehr ähnlichen Erfahrungen erzählt, wenn es um das Unterdrücken dieses Impulses ging. Das hat es bei allen schlimmer gemacht“.
„Schränkt dich das Tourette-Syndrom in manchen Bereichen des Lebens ein?“
„Ja, ich habe z.B. beruflich Probleme. Ich gehe auch nicht in Kinos und zur Zeit auch nicht in Flughäfen, obwohl ich gerne nochmal verreisen würde. Doch das Tourette-Syndrom hält mich halt von Reisen ab, die ich mit dem Flugzeug antreten muss, weil ich an Orten wie Flughäfen oft Wörter wie ‚Bombe‘, ‚Sprengstoff‘ oder ähnliches rufe. Deshalb trete ich meine Reisen nur noch im Auto oder Zug an. Als ich aber mal in Kanada war, konnte ich die Tics besser unterdrücken. Zwar habe ich in Vancouver am Flughafen auch einmal Sprengstoff gerufen, aber das hat wegen dem Deutsch zum Glück keiner verstanden.“
„Oft können besonders Kinder ein Kind, das sich anders verhält als sie selber nicht einordnen. Warst du dennoch ein beliebter Junge?“
„In der Grundschule gingen meine Mitschüler locker damit um. Sie fanden es lustig, dass ich immer wieder Geräusche gemacht habe oder mich selbst wiederholte. Ich integrierte mich gut in der Klasse und hatte einige Freunde, die mich genauso zu Kindergeburtstagen einluden wie alle anderen auch.
Ich wurde eher von einer Klassenlehrerin wegen Tourette und ADHS negativ behandelt. Sie gab offen zu, dass sie mich nicht in Ihrer Klasse haben wollte und es vorziehen würde, mich auf die Sonderschule zu schicken. Im Jahre 2010 verlor sie ihr Amt als Lehrerin.“
„Auf was für eine weiterführende Schule bist du gegangen und wie war es dort für dich, in Bezug auf dein Umfeld?“
„Ich war auf der Realschule und hatte dort sozial gesehen keine Probleme wegen meinen Tics. Mein komplettes Umfeld, also die Lehrer und meine Mitschüler, gingen damit sehr locker um. Ich denke ich wurde so gut akzeptiert, weil ich mich gut anpassen kann und zu allen immer so freundlich war wie möglich“
„Zu welchem Zeitpunkt deines Lebens fing das Tourette-Syndrom an dich einzuschränken?“
„Es fing an Probleme hervorzurufen, als ich meine Ausbildung zum Physiotherapeuten begann. Ich habe Tics, bei denen ich z.B. Gliedmaßen von Leuten in die Hand nehme und diese herumschleudere. Daher werde ich diese Ausbildung nun abbrechen. Zukünftig möchte ich eine Ausbildung im Archiv machen.“
„Wie geht deine Familie mit deinen Tics um?“
„Meine Familie ist sehr tolerant, sie verstehen, dass ich das Tourette-Syndrom nicht unterdrücken kann und deswegen halt beleidigende Worte rufe.“
„Wie ist es, wenn du unter Fremden bist?“
„Unter Fremden werden die Tics schlimmer und ich werde im Prinzip permanent angeguckt. Manchmal bekomme ich auch dumme Fragen gestellt. Zum Beispiel: ‚Warum bist du so auf Stress aus?‘, ‚Hast du eine Überdosis?‘, ‚Bist du verrückt?‘. Einige Leute gehen mir auch aus dem Weg, nennen mich asozial, finden mich lächerlich, denken ich bin aggressiv oder geistig behindert.“
„Wie fühlst du dich, wenn andere Menschen so reagieren?“
„Ich versuche es zu verstehen und denke darüber nach, wie ich wohl reagieren würde, wenn ich als ‚Nicht-Touretter‘ auf einen Menschen mit Tourette treffen würde. Aber solche Sprüche, wie ich sie manchmal zu hören bekomme, würde ich nie rufen. Es ist manchmal etwas verletzend.“
„Was an deinem Leben unterscheidet sich besonders von dem anderer Menschen ohne diese Störung?“
„Mein Leben unterscheidet sich von dem anderer indem, dass ich nicht unerkannt in die Öffentlichkeit kann und z.B. permanent angeguckt werde. Immer aufzufallen ist mir manchmal unangenehm. Vor allem wenn ich mit Freunden unterwegs bin, stört es mich aber weniger angeguckt zu werden. Ich habe zudem beruflich gesehen mehr Schwierigkeiten.“
„Was ist der Auslöser für das Tourette-Syndrom?“
„Das ist schwer zu sagen, da sich auch Ärzte nicht einig sind. Es gibt Theorien, dass es eine genetische Veranlagung ist. Andererseits kann es aber auch durch eine Hirnhautentzündung ausgelöst werden, oder durch eine Chemotherapie. Dann gibt es noch die Komponente, bei der es durch traumatische Ereignisse hervorgerufen wird.“
„Bist du in psychologischer Behandlung und nutz Medikamente gegen die Tics?“
„Ja, beim Psychologen mache ich eine Verhaltenstherapie. Es gab eine Zeit, da habe ich außerdem Medikamente in Form von Psychopharmaka und Neuroleptika bekommen. Da diese Medikamente aber teilweise gar keine Wirkung zeigten, entschied ich mich aufgrund der Nebenwirkungen dafür, sie wieder abzusetzen.“
„Stehst du auch mit anderen Betroffenen in Kontakt?“
„Ja, dadurch dass das Camp in Siegen dieses Jahr zum Beispiel schon 4 Mal stattgefunden hat, habe ich auf jeden Fall so einige Kontakte knüpfen können. Außerdem bin ich in bestimmten Gruppen, in denen man sich zum Thema Tourette austauschen kann.“
„Im Vorfeld hast du mir von einer Cannabis-Studie in Köln erzählt, an der du gerne teilnehmen würdest. Hast du mit dem Thema Cannabis denn bereits gute Erfahrungen, im Bezug auf deine Ticks gemacht?“
„Also, ich kiffe nicht, aber ich habe es mal ausprobiert und es hat tatsächlich geholfen. Ich war danach einige Stunde völlig frei von Tics. Als ich in der Tourette-Ambulanz in Hannover war, wurde ich gefragt, ob ich an der Studie in Köln teilnehmen möchte. Da geht es um das Medikament Sativex, welches durch ein Gerät, das einem Asthma-Inhalator sehr ähnelt, eingenommen wird. Ich hoffe, dass ich an der Studie teilnehmen darf (es steht wegen dem Medikament gegen meine Epilepsie noch nicht fest) und sich dadurch neue Möglichkeiten auftun, mein Leben noch etwas anders zu gestalten.“
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