Vor einiger Zeit stieß ich auf den Blog von Marie. Sie ist 24 Jahre alt und leidet unter Emetophobie. Dabei handelt es sich um die Angst zu erbrechen. So hat man als Betroffener oft nicht nur Angst davor selber zu erbrechen, sondern auch davor, dass andere sich in ihrer Gegenwart übergeben.
Was folgt sind Panikattacken. Wie es ist von Emetophobie betroffen zu sein und wie die Angst zu erbrechen das Leben bestimmen kann, kann man sich nur schwer vorstellen. Um aufzuklären und auf diese Angststörung aufmerksam zu machen, erzählt Marie aus ihrem Leben.
„Wie lange leidest du bereits an der Angst zu erbrechen und wann fing es an?“
„Das Ganze fing mit 12 Jahren in der Schule an. Ich war damals sehr unbeliebt, eben ein klassisches Mobbingopfer. Ich war unglaublich dünn, wenig weiblich und somit eine Zielscheibe für meine Mitschüler. Ich wurde ständig als magersüchtig betitelt, eben aufgrund meiner Statur. Es war die reinste Hölle.
Da ich mit 12 noch nicht wusste was Magersucht überhaupt ist, beschloss ich es zu googeln und erfuhr, dass sich Menschen übergeben um dünner zu werden. Zumindest verstand ich es so. Da ich mich selbst ja als viel zu dünn betrachtete fand ich, dass das Erbrechen das schlimmste wäre was mir passieren könnte, denn wenn ich abnehmen würde, würden sie nur noch gemeiner zu mir sein.
Eines Morgens kurz vor der Schule, an der Bushaltestelle, fiel mir ein Mädchen auf welches ich aus meinem Dorf kannte. Sie war blass, sah irgendwie krank aus und ich spürte, dass mit ihr irgendwas nicht stimmte.
Der Bus kam und es dauerte nicht lange bis sich das Mädchen die Hände vor den Mund presste und sich schließlich übergab. Mitten im Bus. Der beißende Geruch, die angewiderten Blicke und das Gelächter blieb mir in Erinnerung.
Auch, dass der Bus nicht anhielt sondern einfach weiter in Richtung Schule fuhr. Ich bekam Panik und wollte einfach nur raus. Ich weinte und hielt mir die Ohren zu. Mit diesem Erlebnis fing alles an.“
„Das klingt nach einem sehr prägenden Ereignis. Geriet das Thema nach diesem Tag für dich wieder in den Hintergrund?“
„Nein, es hat mich ständig verfolgt. Ich konnte ab diesem Tag nie wieder Bus fahren, ohne dass mir schlecht wurde und ich in Panik verfiel. Ich ging auch immer seltener zur Schule, oder lief die lange Strecke lieber als mit dem Bus zu fahren. So groß war die Angst, dass mir das selbe passieren könnte.“
„Hast du dich mit der Angst zu erbrechen jemandem anvertraut?“
„Nein, habe ich nicht. Ich hatte kein gutes Verhältnis zu meinen Eltern und auch keine Freunde, mit denen ich darüber reden konnte.“
„Wie lange konntest du es geheim halten?“
„Nicht lange. Die Schule informierte meine Eltern, einerseits wegen der Fehlzeiten und andererseits wegen meinen Noten, mit denen es rapide bergab ging.
Zuhause gab es dann großen Ärger.
Wochenlang Fernseh- und Internetverbot, was für mich damals wahnsinnig schlimm war, denn durch das Fernsehen, Internetchats und Spiele, konnte ich mich ablenken und in meine eigene Welt flüchten. Sie fragte natürlich auch was los sei, aber so sehr ich es auch wollte, ich konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen.
Einige Wochen später, bekam ich während des Unterrichts schlagartig keine Luft mehr. Ich kann mich an dieses furchtbare Gefühl noch genau erinnern, als Schnüre mir jemand die Kehle zu. Ich wusste damals noch nicht, dass es eine Panikattacke war und dachte ich müsste sterben. Es war wirklich schlimm. Und selbst da wurde ich noch von den Mitschülern ausgelacht.
Nach einigen Tests beim Arzt die ergaben, dass ich kerngesund war, sprach der Arzt meine Eltern auf eventuelle Familiäre Differenzen und damit verbundene seelische Belastung an.“
„Konntest du dem Arzt denn von deiner Angst zu erbrechen erzählen?“
Nein, auch die Frage ob ich seelische Probleme hätte verneinte ich. Der Arzt vermutete einen Infekt und schrieb mich krank. Es war für mich schon immer unangenehm krank zu sein, selbst wenn ich nur eine Grippe hatte schämte ich mich vor meinen Eltern. Ich weiß bis heute nicht weshalb.“
„Wie reagierten deine Eltern und was änderte sich nach dem du krankgeschrieben wurdest?“
„Nicht viel. Ich war, wie immer, tagelang in meinem Zimmer. Kam nur zum Essen raus, oder wenn ich ins Bad musste. Ich hatte Angst, dass ich wieder so eine Attacke bekommen könnte und flüchtete mich in meine Tv- und Internetwelt. Ich schlief tagsüber und war nachts wach.
Eines nachts kam meine Mutter ins Zimmer gestürmt und nahm mir meinen Fernseher und Laptop weg. Ich schrie und weinte direkt. Sie sagte ich solle schlafen und sie hätte auf das alles keine Lust mehr. Ich schrie sie an, dass ich den Fernseher brauche, weil mir sonst schlecht werden würde und ich Angst habe.
Das war das erste Mal, dass ich es vor meinen Eltern oder überhaupt irgendjemandem aussprach. Mein Fernseher und mein Laptop waren alles was ich hatte, so traurig es klingen mag. “
„Wurdest du nun endlich ernst genommen?“
„Zunächst bekam ich überhaupt kein Verständnis. Meine Eltern waren sichtlich überfordert. Als es dann immer schlimmer wurde gingen sie schließlich mit mir zu einer Kinder- und Jugendpsychologin. Ich glaube ich war da um die 14 Jahre alt.“
„Wurde deine Angst zu erbrechen dort dann als Emetophobie diagnostiziert?“
„Nein! Statt dessen wurde ich als Magersüchtig eingestuft. Man sagte mir, dass diese Angst nur eine vorgeschobene Angst wäre um von meinem eigentlichen Problem, der Magersucht, abzulenken.
Ich war danach unglaublich wütend und hätte am liebsten geschrien: „Ich bin nicht magersüchtig, ich habe Angst vorm Kotzen!“ Aber, zurückhaltend wie ich war, kam nichts davon über meine Lippen.
Diese falsche Diagnose verletzte mich unheimlich, denn ich fand mich selbst sichtlich zu dünn und tat alles um zuzunehmen – ohne Erfolg.“
„Gab es irgendwann eine entscheidende Wende? Jemanden der dir tatsächlich half?“
„Wirkliches Verständnis fand ich damals zunächst im Internet. Ich stöberte durch Foren und fand somit viele Gleichgesinnte und schließlich auch einen Namen für meine Angst zu erbrechen – die Emetophobie.
Ich fühlte mich endlich verstanden und unterhielt mich mit Menschen, die genau die gleiche Angst hatten. Aber durch die Erzählungen, teilweise richtige Horror-Stories der Gruppenmitglieder, wurde ich sehr häufig getriggert.“
„Entwickelte sich so dann auch die Angst vor dem erbrechen anderer Menschen?“
„Ja, genau. Auch fing ich an mich mit ihnen zu vergleichen. Also äußerlich. Ich hasste meinen Körper, fand mich regelrecht abstoßend. Einen Spiegel in meinem Zimmer bemalte ich mit Edding, um mich nicht sehen zu müssen und auch meine Augen schminkte ich jeden Tag schwarz.
Meine Rollläden waren immer unten. Ich saß nur am Laptop, las und schrieb in diesem Forum. Tageslicht war ein Fremdwort für mich.“
„Musstest du denn nicht weiterhin zur Schule gehen? Da lässt sich Tageslicht ja nicht so gut vermeiden.“
„Ja, aber ich tat es nicht. Oft verließ ich morgens das Haus und hielt mich so lange an einer Stelle auf, oder ging durch den Ort, bis die Schule vorbei war, sodass meine Eltern davon nichts mitbekamen.“
„Und die Lehrer meldeten es nicht?“
„Nein, ich rief morgens in der Schule an und meldete mich krank, manchmal gab ich mich sogar für meine Mutter aus.“
„Was trieb dich an, erneut einen Psychologen aufzusuchen? Deine Erfahrung war bis dahin ja nicht die Beste.“
„Ich lernte im Forum ein Mädchen kennen, sie war die einzige mit der ich dort noch schrieb und wir erzählten uns alles. Sie berichtete mir von ihren Therapieerfolgen und ermutigte mich es noch einmal zu versuchen. Damals war ich grader 17.“
„Hattest du mit dieser Therapie denn mehr Glück als mit der Ersten?“
„Die „Therapie“ bestand aus einer Probesitzung und zwei Gesprächsterminen. Der Therapeut stieß jedoch schnell an seine Grenzen und schlug ein Psychopharmaka vor. So bekam ich „Paroxetin“ verschrieben.
Ich hatte wahnsinnige Angst vor den Nebenwirkungen. Gott sei Dank musste ich nicht erbrechen! Nach ein paar Wochen ging es mir zunehmend besser. Ich wurde fröhlicher, mutiger und nahm sogar an Gewicht zu.“
„Welche Diagnosen stellte der Psychologe? Und konntest du den Aufschwung in deinem Leben beibehalten?“
„Er stellte die Diagnose Angststörung und schwere Depression. Beschäftige sich dann aber auch nicht mehr weiter mit meiner Angst zu erbrechen. Also bekam ich Tabletten und keine weiteren Therapie Sitzung. Das gute Gefühl blieb aber lange bestehen.
Kurz darauf lernte ich dann meinen damaligen Freund kennen. Durch das Gefühl frisch verliebt zu sein rückte die Angst zu erbrechen und die darauf folgende Panik sehr in den Hintergrund.“
„Wie lief es beruflich bei dir, jetzt wo es dir so viel besser ging?“
„Etwa ein halbes Jahr nach dem ich anfing die Medikamente zu nehmen, fing ich an in einem Gartencenter zu arbeiten. Ich hatte den Hauptschulabschluss und wollte eine Ausbildung machen.
Man bot mir ein 6-wöchiges Praktikum an. Ich war sehr motiviert und die Arbeit an der Kasse, der Kundenkontakt machten mir Spaß.
Nach ein paar Wochen merkte ich aber, dass ich zunehmend gestresst war, mir Dinge schlecht merken konnte und an der Kasse immer öfter in Panik ausbrach.
Wenn ich etwas falsch machte wurde ich von meinem Chef heruntergemacht und ich hatte jeden Morgen Magen- und Darmprobleme wenn ich zur Arbeit musste. Es wurde zunehmend schlimmer, bis ich meiner Arbeit nicht mehr zufriedenstellend nachgehen konnte und somit gekündigt wurde.“
„Beeinflusste diese Wende im Job auch deine Beziehung?“
„Anfangs nicht, er war sehr verständnisvoll. Ich glaube es war zunächst das Finanzielle was unsere Beziehung sehr belastete. Er war in der Ausbildung und verdiente nicht besonders viel und ich jobbte in der Produktion eines kleines Bioladens bei uns im Ort auf 450€-Basis.
Er fing an mir Vorwürfe zu machen, dass ich meine Ausbildung im Gartencenter versemmelt hatte und es wurde zunehmend kühler zwischen uns. Zu diesem Zeitpunkt waren wir über zwei Jahre zusammen und bereits verlobt.“
„Beeinflusste der Stress mit deinem Partner die Rückkehr deiner Angst zu erbrechen?“
„Ja. Jeder Streit schlug mir direkt auf den Magen. Oft lag ich im Bett und krümmte mich vor Schmerzen. Mir ging es auch körperlich durch die Tabletten zunehmend schlechter. Ich entwickelte einen Reizdarm und eine chronische Gastritis.
Die Emetophobie machte mir wieder mehr zu schaffen, also ging ich mit der Tablettendosis noch höher.
Da ich durch die Tabletten aber immer stärkere Probleme mit meinem Reizdarm und Magen hatte, sprich ständige Durchfälle und Magenschleimhautentzündungen, beschloss ich die Tabletten wieder auszuschleichen.
Die Absetzsymptome waren nicht schön und auch für meinen Verlobten war es damals nicht leicht damit umzugehen. Ständige Heulattacken, begleitet von immer wiederkehrenden Panikattacken belasteten unsere Beziehung oben drein.
Meine Arbeit konnte ich auch nicht mehr wie gewünscht verrichten und dann warf mich der Tod meines Opas zusätzlich aus der Bahn. Ich hatte mir Trost und Verständnis von meinem Freund erhofft, bekam aber nur Ignoranz und verletzende Worte.
Es dauerte sehr lange bis ich einsah, dass unsere Beziehung am Ende war, er mir einfach nicht gut tat und ich mich dann letztendlich trennte. Nun stand ich mit Nichts da und fiel in ein tiefes Loch der Trauer.“
„Konntest du trotz all der Rückschläge wieder am Arbeitsleben teilnehmen?“
„Kurz danach fing ich als Teilzeitkraft im Verkauf an. Es machte Spaß bis ich dann wieder zunehmend Panik bekam.Teilweise erzählten Kollegen dass ihnen schlecht sei, oder sie sich die ganze Nacht übergeben hätten, oder ich bekam solche Gespräche bei Kunden mit.
Ich konnte dem Chef nichts recht machen, alles was ich tat war falsch oder hätte besser sein können. Kurz vor Weihnachten wurde ich dann schließlich gekündigt und hatte versagt. Zumindest fühlte ich mich so.“
„Löste die Kündigung weitere Ängste in dir aus?“
„Ja, ich hatte wahnsinnige Angst die Wohnung zu verlieren, weshalb ich mich beim Arbeitsamt erkundigte, meine Situation schilderte und schließlich für ein psychologisches Gutachten zum Amtsarzt geschickt wurde. Dieser schrieb mich für sechs Monate krank, mit der Auflage eine Therapie zu machen.“
„Bist du dieser Forderung nachgekommen?“
„Ja, Durch meine beste Freundin bekam ich tatsächlich schnell einen Therapieplatz. Es war, bzw. ist eine Verhaltens- und Traumatherapie die wahnsinnig anstrengend ist.“
„Hat die Therapie denn bisher Erfolg bei dir gezeigt?“
„Ja das hat sie auf jeden Fall. Noch vor einem Jahr habe ich kaum das Haus verlassen, hatte ständig Panikattacken, auswärts essen war ohne Angst nicht möglich und auch mit dem Bus fahren ging überhaupt nicht.
Mittlerweile bin ich oft mit dem Bus unterwegs, habe einen Sport (Tae kwon do) angefangen und kann fast problemlos in Restaurants essen. Ich verbringe sehr viel Zeit mit meiner Familie. Unser Verhältnis ist besser denn je, was mich unfassbar glücklich macht.“
„Wie ist es mit der Erfüllung mancher Lebenswünsche? Wäre es für dich z.B. überhaupt möglich ein Kind auszutragen, oder ist die Angst zu erbrechen in einer Schwangerschaft einfach zu hoch?“
„Das ist ein Thema welches mir im Moment sehr zu schaffen macht. Einerseits wünsche ich mir nichts sehnlicher, als eine eigene kleine Familie, aber im Moment sehe ich mich leider nicht in der Lage dazu.
Mit 20 hatte ich einen starken Kinderwunsch. Die Angst zu erbrechen war durch die hohe Dosis Paroxetin kaum noch Thema und ich und mein Verlobter wünschten uns ein Baby – ohne Erfolg.“
„Wie ist das Verständnis deiner Umwelt für deine Angststörung?“
„Mittlerweile gehe ich sehr offen damit um und bekomme von meinem Mitmenschen doch unerwartet viel Verständnis. Natürlich gibt es auch noch Menschen die es nicht verstehen, es seltsam oder gar komisch (im Sinne von lustig) finden, aber da stehe ich mittlerweile drüber.
Was ich also gerne noch jedem mit auf den Weg geben möchte, der dasselbe durchmacht ist, sich zu öffnen und es nicht in sich reinzufressen. Man stößt auf sehr viel mehr Verständnis als man glaubt und im Nachhinein hätte ich mir wirklich viel Leid erspart, wenn ich mich früher „geoutet“ hätte.“
Mehr von Marie und ihrem Leben mit Emetophobie findet ihr hier: https://www.facebook.com/Ist-doch-zum-kotzen-Mein-Leben-mit-Emetophobie-193553077869888/
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Eine Angststörung, welche mir bisher noch gänzlich unbekannt war.
Wünsche der Betroffenen Alles Gute.
An die Autorin dieser Website: Mach weiter so. Toller Blog.
Ein sehr interessantes Interview. Es wird sehr nachvollziehbar berichtet wie es zu allem gekommen ist. Ohne von dieser Angst Emetophobie zu wissen, kann ich mich sehr gut in Marie hineinversetzen. Es hat mich traurig und manchmal auch wütend gemacht was sie alles durchmachen musste. Ich wünsche ihr alles gute.
Und weiter so mit diesem Interviews!
Hi Markus 🙂
Ich danke dir von Herzen.
Grüße, Marie
Ich habe tatsächlich auch eine Kotzphobie, aber nicht in dieser sehr ausgeprägten Form, zum Glück wird mein Leben nicht besonders davon beeinträchtigt …
Ich finde es ganz großartig, dass Sie, Marie, Ihre Erfahrungen mit der Emetophobie so offen mit anderen Betroffenen teilen, weil diese Erkrankung noch viel zu wenig bekannt ist – vor allem, wenn man bedenkt, wie eingeschränkt viele Menschen dadurch sind (Übelkeit, Bauchschmerzen, Verunsicherung und Panik etc.). Mein tiefer Respekt! Und ein großes Lob auch an die Autorin des Artikels! Falls es für Sie oder andere hier von Interesse ist: Ich habe gerade ein Buch über die Behandlung dieser Erkrankung geschrieben (https://amzn.to/3hXsmbj) und einen Youtube-Trailer erstellt (https://youtu.be/IiaFnoLn5_I), weil mir die Betroffenen so leid tun und ich auch etwas dazu beitragen wollte, dem einen oder der anderen zu helfen. Alles Gute Ihnen!