Immer mehr Menschen erkranken heutzutage an Krebs. Forscher schätzen, dass dieses Jahr rund 18 Millionen Menschen Weltweit mit der Diagnose Krebs fertig werden müssen, und rund 10 Millionen an Tumoren sterben. Auch Helen (55), stieß im Laufe ihres Lebens immer wieder auf das Thema Krebs. Ganze fünf Jahre litt ihr Vater an Blasenkrebs. Doch nicht nur er litt. Oft wird vergessen, dass nicht nur die Betroffenen selber mit dem krebs zu kämpfen haben, sondern die gesamte Familie. Hilfestellungen gibt es jedoch kaum. Psychologen werden nur den Patienten zur Seite gestellt, und auch das erst, wenn die Prognose auf Heilung sehr gering ist und der Patient mit dem Tod rechnen muss. Um die Diagnose Krebs aus dem Blickwinkel eines Angehörigen zu betrachten, hat Helen mir erzählt wie es ist, wenn man dem Krebs gemeinsam ins Auge sehen muss.
„Es ist sicherlich hart, wenn ein Familienmitglied an Krebs erkrankt. Bei dir handelte es sich um deinen Vater. Gab es Anzeichen, wegen derer er sich untersuchenz ließ?“
„Nein, es gab keine Anzeichen. Er war zur Routineuntersuchung beim Urologen, als der eine Gewebeveränderung entdeckte. Die Biopsie ergab dann die Diagnose Blasenkrebs. In Folge der Krebsdiagnose kam es zur ersten Ausschabung der Blasenschleimhaut. Dabei werden Schichten der Schleimhaut entfernt. Das brachte aber nicht den gewünschten Erfolg und mein Vater entschloss sich zur Chemotherapie, direkt in der Blase. Zu diesem Zeitpunkt war mein Vater bereits anders. Er wirkte nervös, ängstlich und sehr verunsichert. Ich habe zu der Zeit lange Spaziergänge mit ihm unternommen, ihm zugehört. Ich selbst hatte Angst um ihn und war traurig, wütend und vor allem hilflos. Es gab keine psychologische Betreuung. Weder für meinen Vater noch für uns Angehörige. Das aber wäre bitter nötig gewesen. Insgesamt gesehen, führte die ganze Familie seit der Diagnose ein Leben in Angst. Ein Leben auf der Achterbahn der Gefühle.“
„Wie verlief die Chemotherapie und wie war es für dich, als Angehörige, von der Diagnose zu erfahren?“
„Es erschien mir Irreal – so ziemlich alles was passierte. Die Chemo brachte das Risiko mit sich, dass sich der Krebs oder Zellen festsetzen und ausbreiten. Und genau das ist passiert. Nach fünf schmerzhaften Intervallen Chemo, die direkt in der Blase ausgeführt wurden, kam es später dazu, dass mein Vater Schwierigkeiten beim Harnlassen hatte. Der Urologe wurde hellhörig und man schickte ihn in die Uni Klinik Köln. Wir haben extrem lang auf das Ergebnis gewartet, was mich sehr nervös machte. Denn aus Erfahrung wusste ich: lässt das Ergebnis lang auf sich warten, heißt es nichts gutes. Mein Vater wirkte aufgesetzt Fröhlich und ängstlich zugleich. Meine Mutter eher optimistisch.“
„Wurde deine Angst vor dem schlechten Ergebnis bestätigt?“
„Ja, die Diagnose kam und ich behielt leider Recht. Der Arzt kam ins Zimmer und sagte: „Der Krebs hat sich im Harnleiter festgesetzt. Wir beginnen mit der Chemo (diesmal nicht in der Blase, sondern die normale Chemotherapie). Wenn die Chemo diesmal auch nicht anschlägt, können Sie ihren gemeinsamen Haushalt auflösen.“ Das war ein Schlag ins Gesicht. Der Krebs war nach Gewichtung schnell wachsend – also aggressiv – und hatte bereits die Lymphdrüsen befallen. Mein Vater war geschockt – wir alle. Wir haben in dem Zimmer gesessen, allein, und keiner sprach ein Wort. Irgendwann bin ich aus dieser Erstarrung erwacht und habe geheult. Selbst heute fällt es mir nicht leicht darüber zu reden. Die Chemo, die mein Vater nun bekam, wurde schon nach der ersten Einheit abgebrochen. Mein Vater war vergiftet. Man schickte ihn nach Hause.“
„Was löste diese eher endgültige Diagnose, dass der Krebs gewinnen würde in euch allen aus?“
„Es war der Moment, in dem alles zusammenbrach. Jeder schwieg, jeder trauerte für sich und hatte Angst für sich. Noch immer wurde keinem von uns ein Psychologe zur Seite gestellt. Wir wurden mit dieser Situation völlig allein gelassen. Irgendwann sagte mein Vater sarkastisch zu mir: „Das wars dann wohl.“ Ich hörte es ihn zwar sagen, habe es aber nicht wahr haben wollen. Es gab noch einen kurzen Familienurlaub, den sich mein Vater gewünscht hatte. Mittlerweile waren seine Haare ausgefallen. Aufgrund von Komplikationen bekam er extreme Wassereinlagerungen. Die Diagnose „Infaust“, was bedeutet, dass der Verlauf sehr ungünstig vorausgesagt wird, war endgültig. Nach diesem Kurzurlaub kam mein Vater ins Malteser Krankenhaus. Ich fuhr jeden Tag hin und habe ihn vorsichtig gewaschen, Medikamente verabreicht usw. Ich habe noch immer nicht wahrhaben wollen, dass mein Vater an Krebs sterben wird.“
„Wie hat die Sorge um deinen Vater deinen eigenen Alltag beeinflusst?“
„Ich habe funktioniert und alle Gefühle unterdrückt.“
„Es ist sicherlich nicht einfach, den baldigen Tod eines geliebten Menschen zu akzeptieren. Meist hört man nur davon, wie schlimm die Diagnose Krebs für den Betroffenen ist, wie aber wirkt es sich auf die Familie aus? Was hat sich in der Zeit in deinem/eurem Leben geändert?“
„Alles. Es war eine Ausnahmesituation, die uns alle belastet hat. Wir haben leider nie offen darüber gesprochen. Es war so unerträglich ruhig. Ich war so unkonzentriert, nervös, habe kaum geschlafen und gegessen. Ich fühlte mich total im Stich gelassen. Meine Mutter meckerte mehr als sonst und weinte viel. Sie lebte von Psychopharmaka und Alkohol. Ihren Schmerz hat sie betäubt. Mein Bruder war oft nicht da. Der Krebs schritt weiter voran und es kam zur Störung des venösen Blutkreislaufs von Magen, Darm, Milz und Bauchspeicheldrüse.
Der Krebs hat den Geschmackssinn meines Vaters verändert. Stuhlgang war mit Schmerzen verbunden. Ich weiß nicht wie oft ich den Eimer hielt, während er sich übergab. Wir waren gefangen in einem totalen Albtraum, mit der Hoffnung auf ein Wunder. Hätte ich wenigstens Heulen oder Schreien können, aber es ging nicht. Ich weiß nicht warum, aber da war nichts außer ein stechender Schmerz. Und man soll es nicht glauben, aber noch immer gab es keinen seelischen Beistand. Das kritisiere ich am meisten. Einiges wäre für uns alle leichter gewesen, wenn ein Mensch dagewesen wäre, mit dem man hätte reden können.“
„Wie lange musste dein Vater und somit auch ihr noch leiden?“
„Mein Vater kam auf die Palliativstation. Dort bekam er Sozialarbeiter, Pfarrer und Psychologen zur Seite gestellt. Er bekam Morphium gegen die Schmerzen. Ich habe meine Mutter darauf getrimmt nie vor meinem Vater zu weinen. Er hätte gedacht, er müsse kämpfen. Aber er sollte das Gefühl haben, dass alles in Ordnung ist, dass alles geregelt sei und er gehen könne. Er selber hat zu mir gesagt: „Helen, ich möchte sterben.“ Den Moment werde ich nie vergessen. Da hat sich die Blockade gelöst und ich weinte endlich. Er hat mich getröstet – das war schlimm für mich. Im Grunde ist Krebs immer ein unglaublicher Leidensweg, der sich auf die Seele aller legt. Ein Leben mit Krebs ist nicht mehr im geringsten „normal“. Es ist ein Leben mit Angst, Hoffnung, Resignation, Trauer und Hilflosigkeit. Und jeder versucht, es den Betroffen nicht merken zu lassen.
Wäre das Gesundheitssystem gut, bekämen auch die nahen Verwandten des Betroffenen einen Therapeuten und Hilfe. Denn am Ende bricht alles zusammen. Angefangen von den Beziehungen zueinander, über den Haushalt und der Angst vor dem endgültigen Anruf, dass der Patient im sterben liegt, die jeder mit sich trägt.“
„Du sagst, dein Vater hat sich den Tod gewünscht. War es dadurch eine Erleichterung für euch, als er starb, oder wurde dir und dem Rest der Familie erst da bewusst, was all die Jahre passiert war?“
„Nein es ist keine Erleichterung. Den Satz „nun ist er erlöst“, hört man laufend – er bringt aber rein gar nichts. Man verliert einen geliebten Menschen und jeder wünscht sich nur es wäre nie passiert und er wäre noch da. Wer soll diese Lücke füllen? Das braucht sehr viel Zeit.
Das Schlimmste für alle ist es, wenn noch Hoffnung besteht und alles auf Chemo und/oder Bestrahlung gesetzt wird. Es gibt natürlich auch viele Patienten die Krebs überleben. Aus diesem Grund sind die Vorsorgeuntersuchungen so enorm wichtig. Krebs ist eine Erkrankung, die jeden treffen kann. Nicht nur immer die anderen – manchmal ist man der Andere. Das sollte jedem bewusst sein. Man sollte deshalb lieber einmal zu viel als zu wenig zur Vorsorge gehen.“
„Was würdest du Familien raten, die diese Leidensweg noch vor sich haben?“
„Angehörige sollte unbedingt Gefühle zulassen und miteinander reden, statt zu schweigen und zu verdrängen. Dieser Leidensweg ist zu anstrengend, um ihn alleine zu gehen.
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Dein Beitrag spricht mir aus der Seele. Ich (59) habe Ende Juli nach vielen fürchterlichen Monaten meine mir so nahe stehende Schwester (62) durch Krebs verloren und die Phase ihres Leidens hat uns alle psychisch als auch physisch aus den Schuhen geworfen. Nichts ist mehr wie es war und es braucht nach all den Erlebnissen und Eindrücken viel Zeit um sich selbst wieder den Gedanken zu erlauben, dass es ein gesundes Leben, eine frohe Zukunft gibt. Auch ich habe mich damals komplett isoliert gefühlt und von mir aus Hilfe gesucht um Körper und Psyche zu entlasten. Ich sitze noch immer in Trümmern der Trauer aber ich will mehr denn je die Zeit, die mir bleibt, selbst nutzen und mit Menschen, die ich liebe, die mir wichtig sind, geniessen. Meditieren hilft mir, auch darüber zu schreiben, darüber zu reden. Und Zeilen wie deine zu lesen. Vielen Dank und herzliche Grüße aus Wien!