Wir alle haben schon mal einen Menschen getroffen oder zumindest im entfernten Bekanntenkreis erlebt, dessen auf und ab der Gefühle uns nicht erklärbar ist. Nicht immer sind damit einfach ein paar Minuten Wechselhaftigkeit verbunden, die sich einfach so aus einem schlechten Tag ergeben haben. Bei einigen Menschen steckt mehr dahinter, wenn sie von der einen Sekunde auf die andere von bester Laune in tiefste Traurigkeit stürzen. Wenn sie sich leer fühlen, oder überreagieren und in ihrer Meinung hin und her springen. Das Wort Borderline dürfte mittlerweile jedem etwas sagen, dennoch wissen viele nicht was es eigentlich bedeutet.
Der erste Gedanke ist für gewöhnlich der, an einen Menschen, der sich die Arme ritzt. Schnell wird das ganze deshalb auch mit dem Ringen und Betteln nach Aufmerksamkeit in Verbindung gebracht. Das hinter all dem sehr viel mehr steckt und oft überhaupt nicht der Wunsch nach Aufmerksamkeit, sehen die meisten nicht und denken auch nicht darüber nach.
Für denn Großteil von uns, gibt es einfach keinen Grund sich mit Borderline zu beschäftigen. Dabei wäre vielen Betroffenen geholfen, wenn sie nicht einfach nur als Menschen abgestempelt werden würden, die nur um Aufmerksamkeit buhlen. Um einen Einblick in die Welt von Borderline-Erkrankten zu bekommen, habe ich in einigen Foren, zur Selbsthilfe bei Borderline, nach Betroffenen gesucht, die mit mir darüber reden, was es bedeutet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erkrankt zu sein. Nach dem ich einen recht interessanten Beitrag von Anna* gelesen habe, beschließe ich sie um ein Interview zu bitten.
Sie antwortet zwar schnell, bittet mich aber um ein wenig Bedenkzeit. Die bekommt sie. Am nächsten Tag meldet sie sich bei mir und stimmt einem Interview zu. Sie wolle sich nicht verstecken, schreibt sie mir als Begründung. Ihre Krankheit wäre nichts was ihr peinlich sein müsste, ergänzt sie. Recht hat sie.
Anna ist 23 Jahre alt und seit vier Jahren verheiratet. Sie hat drei, wie sie sagt, wunderbare Kinder. Momentan ist sie Zuhause bei ihnen, geht aber ab November wieder in teilstationäre Behandlung um ihre Borderline-Persönlichkeitsstörung und ihre Posttraumatische-Belastungsstörung in den Griff zu bekommen. Es ist ihr sehr wichtig, dass sich in der Zeit, die sie nicht Zuhause seien kann, jemand um die Kinder kümmert. Sie sind ihr das wichtigste, betonte sie deutlich.
„Wie lange leidest du bereits an der Posttraumatischen-Belastungsstörung und wann gab es die Borderline-Diagnose?“
„Ich bekam die Diagnose über meine Depressionen bereist mit 15. Nach der Geburt meines ersten Sohnes mit 16, bekam ich die Depressionen nicht mehr so recht in den Griff. Seit meinem siebzehnten Lebensjahr werden diese deshalb auch medikamentös behandelt.
Mit 18 hatte ich dann noch einen Schlaganfall, der mich sehr runter gezogen hat. Kurz darauf habe ich geheiratet. Ich habe durch den Schlaganfall einfach gemerkt wie kurz das Leben sein kann und mich deshalb so schnell fest gebunden.
In den letzten Jahren ging es mir mal besser und mal schlechter. Ich merkte speziell im letzten Jahr, dass da mehr ist als die Depressionen. Ich fragte mich was mit mir nicht stimmt. Warum ich mich und meine Gefühle selbst nicht verstehe.
Am Anfang dieses Jahres war ich dann kurz vor einem Suizidversuch und kam in eine Klinik. Dort war ich acht Wochen lang stationär und bekam das erste Mal die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ich war geschockt, aber habe mich nach und nach etwas in die Thematik rein gelesen und endlich konnte ich mich ein wenig verstehen. Mir ging es genauso, wie Borderline im Lehrbuch beschrieben wird.“
„Wie wirkten sich die Depressionen und nun auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung auf deinen Alltag und deine Beziehungen aus?“
„Auf meinen Alltag Mal mehr Mal weniger stark. Ich habe manchmal starke Probleme Motivation zu finden und wäre am liebsten nur im Bett. Auf meine Beziehungen, besonders in den letzten zwei Jahren, hat es sich aber extrem ausgewirkt. Es ist ein ständiges Wechselbad der Gefühle. So ist mir beispielsweise mein Partner gerade sehr nah und im nächsten Moment reicht ein Blick von ihm und ich empfinde Ablehnung, ja gar tiefe Ablehnung ihm gegenüber. Das wechselt ständig und ist für mich kaum kontrollierbar. Meine Laune wechselt oftmals zwischen total gut drauf, fast überdreht, zu todunglücklich. Am schlimmsten wirkt sich das auf Freunde und Familie aus, jedoch kaum auf meine Kinder.“
„Wie geht dein Mann mit der Situation um?“
„Er ist selbst auch manisch depressiv und weiß wie es ist, wenn man sich selbst nicht so wirklich versteht. Wir reden viel miteinander und lassen uns auch oft einfach in Ruhe, wenn der andere gerade eine Pause braucht. Er versucht mich zu verstehen, in dem wir Gespräche führen, ist aber auch oft sehr verletzt, wenn ich ihn Mal ablehne. Ich merke das meist erst hinterher.“
„Wie sieht deine therapeutische Behandlung aus?“
„Einen Therapeuten für eine Gesprächstherapie zu finden ist sehr schwer. Derzeit stehe ich auf einer Warteliste.
Ich habe Anfang des Jahres, im Anschluss an meine stationäre Behandlung, in einer Tagesklinik angefangen, diese aber nach wenigen Wochen unterbrechen müssen, weil ich viele Termine wahrnehmen musste und zu selten an den Therapiesitzungen teilnehmen konnte. Unter anderem auch deshalb, weil ich mich im stationären Aufenthalt von meinem Mann getrennt hatte. In der Therapiepause bin ich allerdings wieder mit ihm zusammen gekommen.
Ich sags ja, es ist ein hin und her in und vor allem mit mir. Gefühlschaos. Unkontrollierbar. Die Therapie in der Tagesklinik sollte schon früher wieder aufgenommen werden, aber meine Therapeutin will, dass die Beziehung erst gefestigt wird, bevor ich wieder anfange daran zu arbeiten. Also ein paar positive Monate mit meinem Mann sollen erst vergehen. Deshalb fängt die Tagesklinik für mich im November erneut für vier Monate an. Ich hoffe, dass ich danach eine Weiterbehandlung bei einem ansässigen Therapeuten bekomme.“
„Wie versuchst du selber damit umzugehen? Gelingt es dir Selbstmordgedanken an die Seite zu schieben?“
„Momentan ja. Das liegt aber sicher daran, dass ich medikamentös sehr gut eingestellt bin. Klar, Selbstzweifel kommen manchmal schon hoch, aber das richtige Loch bleibt bis jetzt, Gott sei Dank, aus. In ruhigen Momenten versuche ich alles nochmal Revue passieren zu lassen, alles zu reflektieren. Ich versuche aufzuschlüsseln was los war und zu akzeptieren, dass es eben manchmal die Krankheit ist und ich es nicht ändern kann. Aber wenigstens verstehe ich mittlerweile was mit mir los ist und muss mich nicht mehr grundsätzlich dafür hassen wie ich bin.“
„Hast auch du dich, in Phasen in denen du in einem tiefen Loch stecktest, geritzt?“
„Nein das ist ein typisches Klischee, aber das bin nicht ich. Nicht jeder Krankheitsverlauf ist gleich. Ich mache das anders. Letztes Mal beispielsweise, wollte ich Tabletten nehmen, sehr viele auf einmal. Ich ritze mich nicht. Wenn ich in so ein Loch falle, dann werde ich apathisch, bin abwesend, liege im Bett, oder rede nicht mehr und bekomme zeitweise Halluzinationen und Panikattacken. Das hab ich im Moment allerdings wenig. Nur die Panikattacken sind nach Stresssituationen eben noch da.“
„Also hast du dir nie, wie viele andere Betroffene, Schmerzen zugefügt? Egal ob nun seelisch oder körperlich?“
„Nein. Wie gesagt, es gibt viele Facetten des Lebens und der Krankheit. Eine Grippe verläuft auch nicht bei jedem gleich.
Ich denke, man bringt es in Verbindung, weil man es sieht. Es ist etwas, was man sehen und begreifen kann, deshalb ist es das Erkennungszeichen, aber bis es dazu kommt, dass ein Mensch sich ritzt, passiert sehr viel in seinem Inneren und das ist die Krankheit. Die Spanne dazwischen, das Gefühl zu zerreißen, mitten im eigenen Körper zu sterben, vor Schmerzen und vor Leere. Doch das sieht niemand, deshalb steht eben nicht das, sondern das Ritzen für diese Krankheit.“
„Was fühlst du und was geht dir durch den Kopf, wenn du in so einem Loch bist?“
„Schwierige Frage. Ich kann die Gefühle nicht so recht deuten. Es ist Hass einem selbst gegenüber und Liebe allen anderen gegenüber. Also zum Beispiel denke ich oft, dass meine Liebsten etwas viel besseres verdient haben, als mich. Und trotzdem bin ich hier und nehme den Platz ein, den ich nicht verdient habe. Den Platz, den jemand anders haben könnte. Das ist dann der Hass mir selbst gegenüber. Es sind Zweifel, Hoffnungslosigkeit, Leere und ganz viel schwarze Farbe.
Und dann gibt es da eben noch andere Löcher bei mir. Die sind dann nach Überforderungssituationen. Da bekomme ich dann Panik und sehe Dinge, die nicht da sind. Ich weiß, dass es nicht real ist, bin aber so darin gefangen, dass ich richtig abwesend bin. Ob das jetzt zur Borderline-Störung gehört kann ich nicht sagen. Meine Therapeuten meinten ich habe ein Trauma und es kommt daher.“
„Wie steht deine Familie zu dem Thema?“
„Ich habe ein sehr schlechtes Verhältnis zu meinen Eltern. Es ist ein Abhängigkeitsverhältnis. Oft habe ich das Gefühl, dass ich ihre Hilfe brauche, doch eigentlich machen sie alles nur schlimmer. Das ist auch eines der Themen in meiner Therapie. Und wieder ein Beispiel für meine innerliche Zerrissenheit, zwischen Hass, Angst und Abhängigkeit.“
„Denkst du, deine Eltern sind auch ein Grund für die Entwicklung deiner Borderline-Persönlichkeitstörung?“
„Meine Eltern speziell sicher nicht. Ich gebe niemandem die Schuld. Ich wurde in meiner Kindheit allerdings in eine eher nicht so schöne Situation hinein geboren, die sehr undurchsichtig war. Das ist sicher einer der Gründe. Ich bin aber nicht sicher, wo sich der Ursprung der Krankheit befindet. Da bin ich noch lange nicht angekommen, aber ja, viel liegt in der Kindheit und einiges kam eben danach. So baut alles aufeinander auf.“
„Hast du schon mehr als einen Selbstmordversuch hinter dir?“
„Ja, zwei Stück. Einen als Kind und einen später, als ich älter war.
Bei dem ersten Versuch war ich erst 12. Mich haben Passanten gefunden. Über die Gründe rede ich allerdings nicht.“
„Wie ist deine Familie denn dann damit umgegangen?“
„Naja, es ist eben so weiter gelaufen wie zuvor. Ab diesem Zeitpunkt bin ich nicht mehr oft Zuhause gewesen. Ich war immer hier und da. Mit 13 bin ich dann zum Jugendamt gegangen und kam von zu hause weg. Man steckte mich in eine Mädchenwohngruppe. Ich blieb allerdings nur ein Jahr, da ich ein rebellischer Teenie war, der keine Grenzen kannte und bei der ersten richtigen Grenzsetzung wieder zu meinen Eltern abgehauen bin. Da ich freiwillig gekommen war und meine Mutter mich freiwillig abgegeben hatte, konnte ich auch freiwillig abbrechen und wieder zurück gehen.“
„Was würdest du dir für deine Zukunft wünschen?“
„Das habe ich mich in letzter Zeit sehr häufig gefragt. Lange habe ich darauf keine Antwort gehabt. An erster Stelle möchte ich, dass meine Kinder glücklich und gesund groß werden und dass sie das Leben so schadlos überstehen wie es eben möglich ist. In naher Zukunft möchte ich wieder arbeiten und ein Haus mit Garten mieten. Mein Leben in den Griff bekommen und eine gute Mutter sein. Das sind meine größten Wünsche und ich arbeite jeden Tag hart daran“
„Was macht es dir derzeit noch unmöglich, einer Arbeit nachzugehen?“
„Nun, ich muss mein Gefühlschaos in den Griff bekommen und meinen Alltag allein stemmen können, bevor ich an Arbeit überhaupt denken kann. Das kann ich seit dem letzten Klinikaufenthalt leider nicht mehr. Ich hab eben nie eine Therapie gemacht und irgendwann holt dich das alles einfach ein.
Ich hab bis dato immer 100 % funktioniert und niemand hat gemerkt, wie ich jeden Tag kämpfe.“
*Name wurde auf Wunsch geändert.
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