Anne* ist Psychologin, 50 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Bis dahin klingt alles nach einem völlig normalen Leben. Doch Anne, sowie auch ihre beiden Kinder, haben das Asperger-Syndrom. Welche Umstände und Verhaltensweisen das mit sich bringt und wie es ist mit dem Asperger-Syndrom als Psychologin zu arbeiten, eine Ehe zu führen und sich um die Bedürfnisse der Kinder zu kümmern, erzählt Anne ohne Umschweife.
„Wurde das Asperger-Syndrom bei dir schon in der Kindheit oder erst in der Jugend/Erwachsenenalter diagnostiziert und wodurch äußerte es sich?“
„Mir war, wie vielen Aspies, mein irgendwie komisch Sein bewusst, aber nicht erklärlich. Es fiel auf als meine Kinder in der Vorschule diagnostiziert wurden und ich mich 1:1 darin wiedererkannte. Ich war an die 40 damals.“
„Welche Schwierigkeiten bringt das Asperger-Syndrom für dich im Alltag mit sich?“
„Natürlich solche, wie man sie auch zum Thema Asperger nachlesen kann. Zum Beispiel, dass ich sehr konkretistisch denke, in meiner Interpretation oft unsicher bin, oder überfordert damit, was in anderen gerade vorgeht.Einfach in die Kneipe gehen ist schwer und endet regelmäßig mit Migräne, weil es für mich zu laut und durcheinander ist.
Spontan telefonieren geht auch Zuhause besser mit geschlossener Tür, auch wenn ich berufliche Routine damit habe. Am schwierigsten ist, dass Asperger unsichtbar ist, und von mir als relativ intelligenter Mensch erwartet wird, genauso zu funktionieren wie jeder Normale auch.
Es ist jeden Tag schwer, auch innerhalb der Familie, klar zu machen, dass ich gestresst bin, auch wenn man es mir nicht ansieht und deshalb auch nicht glaubt. Und die Gesichtsblindheit, die ist doof. In einer Kleinstadt, wo sich alle kennen, rechnet niemand damit einfach nicht erkannt zu werden. Ich weiß somit nie, wen ich gerade nicht gegrüßt habe.“
„Du sagst auch deine Kinder haben die Diagnose Asperger erhalten. Macht es eure Beziehung schwieriger, oder gar besser, da man den anderen besser verstehen kann?“
„Zwischen mir und meinen Kindern macht es das eindeutig besser. Wir verstehen uns oft ohne Worte. Ich glaube, ich bin auch gut genug im Leben verankert, um ihnen beim Übergang in die Normalwelt beistehen zu können. Für meinen Mann, als Nicht-Aspie ist es schwer, er steht oft vor der Glaswand und fühlt sich (zu Unrecht) ausgeschlossen.“
„Wie versucht ihr solche Situationen in der Familie und auch im Alltag zu meistern?“
„Die Kinder waren beim Kinderpsychologen, der hatte aber gar kein Händchen dafür. Die Schule hat Gott sei Dank sehr viel Verständnis und die Lehrer sind gesprächsbereit. Also es funktioniert so gut wie es kann. Meine Kinder sind relativ oft allein, aber ich finde das nicht so schlimm, sie brauchen ja auch Zeit alleine. Zuhause versuche ich meinem Mann gegenüber oft zu „dolmetschen“, was in unseren Kindern und mir vorgeht, oder warum wir uns wie verhalten.
Das klappt nicht immer gut. Sehr wichtig ist eine Umwelt, die wie unsere Bekannten auch, erst mal akzeptierend zuhört, was Asperger eigentlich ist, bevor sie verurteilen. So was ist unschätzbar wertvoll. Die Fuchskind Comics waren Gold wert für meine Kinder, um sich zu finden und verstehen zu lernen.“
„Wie geht dein Mann damit um? Ich könnte mir vorstellen, sich immer außen vor zu fühlen, wenn auch zu unrecht, kann sehr zermürbend für eine Ehe und Familie sein.“
„Oh ja! Im Ernst, ich weiß nicht, wie lange es noch hält. Bisher sind es 20 Jahre in denen wir es immer wieder geschafft haben. Sagen wir so: Wir sammeln Erfahrung im Krisenmanagement. Er tut mir natürlich leid, wenn er sich außen vor fühlt, ich kann es nur leider nicht ändern, dass seine Erwartung immer wieder enttäuscht wird.“
„Du hast vorhin erwähnt, dass deine Kinder oft allein sind, sind sie gerne alleine oder liegt es daran, dass die anderen Kinder sie nicht so akzeptieren wie sie sind?“
„Meine Kinder haben kein großes Problem damit. Wenn Besuch kommt, den sie mögen, gehen sie aktiv darauf zu und sind sehr gastfreundlich. Ich bin froh, dass sie zum Teil wenigstens online vernetzt sind. Ich schätze, es liegt daran, dass sie anderen Kindern zu fremd sind, nicht im Sportverein (leider ist der Versuch auch gescheitert) etc. Zudem wollen meine Kinder definitiv nicht, dass die Mitschüler wissen, dass sie Asperger haben.“
„Du sagtest, dass deine Schwächen denen anderer Menschen mit Asperger entsprechen würden. Wie lässt sich das mit deinem Beruf als Psychologin vereinbaren? Es ist ja ein Beruf, in dem es viel auf Einfühlungsvermögen und das Verstehen andere ankommt.“
„Ich habe Einfühlungsvermögen! Sehr viel sogar, wenn ich die Ruhe dazu habe, und die habe ich im Beruf. Und klar denken kann ich auch, das hilft ungemein als Psychologin. Ich muss im Beruf nirgendwo auf die Schnelle, zwischen Tür und Angel reagieren, das wäre schwer für mich.“
„Ist bei deinen Kindern auch Asperger diagnostiziert worden, oder ist es Autismus?“
„Letztendlich ist es das selbe. Im heutigen Diagnosesprech würde man hoch funktionaler Autismus sagen. Das heißt Autismus, aber genug IQ, um es auszugleichen.“
„Was hast du für ein Gefühl, wie eure und besonders deine Umwelt damit umgeht?“
„Ich klopfe mal eben auf alles Holz hier um mich herum. Die, die es wissen, gehen sehr liebevoll damit um. Das hat keiner Beziehung einen Abbruch getan. Die, die es nicht wissen, „stolpern“ eher über uns oder lehnen uns ab. In der Tendenz erzähle ich es eher mehr als weniger Personen, jedenfalls was mich selbst betrifft. Meine Kinder mögen das ja nicht. Mein Chef weiß es auch. Und die Menschen, von denen ich weiß, dass sie mit Asperger verächtlich umgehen würden, die lass ich eh außen vor.“
„Heißt das, dir sind schon Menschen begegnet, die damit verächtlich umgingen?“
„Na klar, solche, für die alles Psychische irgendwie eingebildet ist, hab ich einige im Bekanntenkreis. Na gut, mit denen muss ich das nicht debattieren.“
„Aber Autismus ist doch nichts Psychisches, sondern etwas was man durchaus körperlich (Gehirn) erklärt, oder nicht?“
„Ja, aber die Psyche funktioniert nur in den Grenzen, die das Gehirn zulässt oder anders: Der Mechanismus ist neuronal, die Auswirkung weitgehend psychisch (natürlich auch sensorisch motorisch etc.).
Zum Beispiel die Sache mit der Empathie. Ich sehe mehr Details als Zusammenhang. Und Mimik interpretieren ist schwer, wenn man ein Gesicht im Teil zusammensetzt und nicht intuitiv als Ganzes interpretiert um die sozialen Zusatzinfos zu nutzen. Das ist der neuronale Anteil. Die Vernetzung an einem Punkt ist stärker, als die Vernetzung zwischen den Gehirnbereichen.
Ich sehe ein Gesicht Teil für Teil. Ich kann es letztendlich genauso interpretieren, auch sehr mitfühlen, aber brauche mehr Zeit und wirke deshalb entweder verzögert, oder kalt auf andere. Ich bin selbst angestrengter als andere. Das ist der psychische Teil.
Oder, anderes Beispiel: Blickkontakt. Ich kann mich aufgrund der Detailverarbeitung schwer von Augen lösen, die mich anblicken und gerate schnell unter Druck, wenn mich jemand ununterbrochen anblickt. Ich schaue weg, um mich zu entlasten, der andere ist irritiert oder beleidigt, dann geht die psychische Belastung weiter.“
„Hast du Patienten die auch wegen den Lebensumständen, die das Asperger mit sich bringt, in deiner Behandlung sind? Könnte das dazu führen, dass du dich ihnen gegenüber anders verhältst?“
„Ja es gibt ab und an Patienten, die meinen Verdacht wecken, wenn ich 90% sicher bin, sag ich es ihnen. Ich fühl mich anders, ja, in gewisser Weise froh, weil ich weiß, ich werde sie nicht überfordern mit Dingen, die sie nun mal nicht können. Sympathisch sind sie mir deswegen nicht automatisch.“
„Woran hast du schon früh gemerkt, dass du dich anders verhältst, als deine Mitmenschen?“
„Ich konnte nichts mit Puppen anfangen, nichts mit Discos, und wenn ich versuchte, mich beliebt zu machen als Teenie, gab es nur irritierte Blicke. Vorhaltungen, ich soll mich mal anstrengen, was ich doch versucht habe. Ich war der geborene, scheinbar unheilbare Außenseiter. Allein schon wenn ich zum Bäcker rein gehe, nur zwei Sachen kaufen, reicht es um die Verkäuferin zu verwirren, weil ich scheinbar genau um 2mm, aber dennoch eindeutig komisch erscheine. Das kann ich kaum kontrollieren. Ich wusste nicht, wie man flirtet und konnte auch nicht einschätzen wer sich für mich interessiert. Wer weiß, was ich alles verpasst habe.“
„Denkst du, in unserer Gesellschaft müsste sich was tun, damit Menschen mit Asperger anders wahrgenommen werden als jetzt?“
„Viel kann man da nicht machen. Wer überfordert ist, sich in jemand fremdartigen rein zudenken, ist eben überfordert. Das Wissen unter Ärzten, Psychologen, Lehrern und Erziehern, zu verbreiten würde allerdings extrem helfen. Ich hab im Studium nichts zu dem Thema Asperger gehört oder gelesen. Frühere Diagnosen wären die Folge, und ein unverkrampfter Umgang. Vor allem Erzieher, im Kindergarten, könnte so schon einiges erkennen und auf Asperger aufmerksam machen.“
- Name auf Wunsch geändert
Fotos: https://www.motosha.com/ & http://freepixels.com
Mehr von *Anne findet ihr hier: https://yowriterblog.wordpress.com/
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